Seit 1909 widmete sich Weisgerber zunehmend den großen, ernsten Lebensthemen. Seine Hinwendung zu religiösen und mythologischen Stoffen steht hierbei zweifellos in Zusammenhang mit seiner Entdeckung der italienischen Renaissancekunst, mit der er sich auf mehreren Reisen nach Italien eingehend beschäftigte. Wie seine expressionistischen Kollegen ließ sich Weisgerber zudem durch die Lektüre der Schriften von Nietzsche, Dostojewski, Balzac und Wedekind, aber auch von der Bibel inspirieren, die Anstoß für viele seiner Werke gab.
Schwermut lag über der späten Schaffensphase Albert Weisgerbers. Themen von Leid und Tod, von Kampf und Überwindung rückten in den Blickpunkt seiner Aufmerksamkeit und bestimmten die malerischen Gehalte der Spätzeit. Der an seinem Dasein leidende Mensch wurde eine zentrale Metapher.
Wenn es ein Motiv gab, das ihn immer wieder faszinierte, dann war dies der heilige Sebastian. In der Sammlung der Albert-Weisgerber- Stiftung sind einige Fassungen des Themas zu finden. Man hat mit Recht vermutet, dass sich Weisgerber in Sebastian selbst dargestellt hat. Seit alters her galt der Heilige als Symbolgestalt des Künstlers in seiner Rolle als Außenseiter und Märtyrer der Gesellschaft. Nacktheit und Verletzlichkeit, Ausgesetztheit und Ohnmacht, Ausgrenzung und Isolation, aber auch Erlösungssehnsucht und Gottvertrauen, geraten in der Leidensfigur des Sebastian zu metaphorischen Spiegelungen von Welterfahrung.
Mit David und Goliath sowie dem alttestamentarischen klagenden Jeremia griff Weisgerber auf weitere Bildinhalte der europäischen Geistesgeschichte zurück. Seine ergreifenden Darstellungen des Propheten Jeremia, denen zahlreiche zeichnerische Studien vorausgingen, erinnern in der Anlage der Hell-Dunkelwerte sowie der Drastik ihrer Verbildlichung an die Bildwelten El Grecos. Weisgerber erreichte hier einen Höhepunkt auf dem Weg zu einer expressiven Bildform.
Auch Weisgerbers Amazonen-Darstellungen zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Tradition. Anregungen zu diesem klassischen Thema aus der griechischen Mythologie fand er in berühmten Werken der abendländischen Malerei, so etwa bei Peter Paul Rubens, Anselm Feuerbach, Hans von Marées oder Franz von Stuck.
Weisgerber veranschaulichte in diesen Werken, dass Geschichte und Gegenwart keinesfalls in einem Widerspruch zueinander standen, sondern sich in einer ungebrochenen Kontinuität befanden. Nicht umsonst galt er in der kunsthistorischen Forschung als ein idealistischer Expressionist.
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