Seit 1909 zeigte sich Albert Weisgerber in besonderem Maße von der Figur des heiligen Sebastian fasziniert, die ihn in einer Reihe von Werken eingehend beschäftigte. Bis 1913 unterzog er das Thema des christlichen Märtyrers einer intensiven künstlerischen Bearbeitung, die eine differenzierte, interpretatorische Ausleuchtung zu erkennen gibt.
Wie sein Künstlerfreund Gino de Finetti berichtete, arbeitete der Maler im Sommer 1909 in Schondorf am Ammersee, „an Studien im Wald, mit einem Münchener Modell, zum Heiligen Sebastian, den er dann in verschiedenen Fassungen ausführte; der junge Mann war tapfer: beim Modellstehen wurde er von Schnaken beinahe lebendig aufgefressen, klagte aber nicht.”¹ ein Umstand, der Finettis Schilderung angesichts der Thematik eine amüsante Note verleiht.
Auch Theodor Heuss, der Freund und spätere deutsche Bundespräsident, erinnerte sich an die leidenschaftliche Hinwendung des Malers: „…wenn ich ihn, im Abstand von ein oder zwei Jahren, bei Besuchen in München wiedersah, waren es die Sebastian-Bilder, waren es biblisch-religiöse und mythologische Stoffe, die ihn reizten, nein quälten, bewegten, begeisterten […].“²
Nach der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine stammte Sebastian aus Narbonne und war Anführer der Leibgarde des römischen Kaisers Diokletian. Im Gegensatz zur heidnischen Staatsreligion war Sebstian ein bekennender Christ. Seine Stellung als Offizier der Leibgarde erlaubte es ihm, heimlich seinen christlichen Glaubensgenossen in den Gefängnissen Roms beizustehen. Von Diokletian des Verrats bezichtigt, wurde er zur Strafe zum Tode durch Erschießen verurteilt. Der Legende nach ließ er ihn an einen Pfahl, eine Säule oder einen Baum binden und von numidischen Bogenschützen – andere sagen von seinen eigenen Soldaten – martern.
Man hielt ihn zunächst für tot und ließ ihn liegen. Doch die quälende Marter hatte ihn nicht getötet. Eine christliche Witwe namens Irene nahm sich seiner an und pflegte ihn gesund, so dass Sebastian erneut vor den Kaiser trat und diesen der grausamen Christenverfolgung öffentlich anklagte. Daraufhin habe Diokletian der Legende nach Sebastian steinigen oder mit Keulen erschlagen lassen. Um seine posthume Verehrung abzuwenden, sei der Tote in die Cloaca Maxima Roms geworfen worden. Eine Christin namens Lucina, der Sebastian im Traum erschien, habe schließlich den Leichnam geborgen und in den Katakomben der Via Appia bestatten lassen. Nach einer erstmaligen Anrufung als Pestpatron anlässlich der Pestepidemie in Rom 680 n. Chr. erlangte Sebastian rasch Bedeutung als Pestheiliger und wurde als solcher bis ins 16. Jahrhundert hinein einer der am meisten verehrten Märtyrer des Abendlandes. Er galt aber auch als Schutzpatron der Kreuzritter und der Schützenbruderschaften.
Die Figur des Märtyrers avancierte im Werk Albert Weisgerbers zu einer Schlüssel- und Identifikationsfigur. Als Sinnbild der Erfahrung von Ausgrenzung, Einsamkeit und Leid können Weisgerbers Sebastiandarstellungen auch als indirekte Selbstbildnisse interpretiert werden. Der heilige Sebastian wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Seelenverwandten des modernen Künstlers. In seiner Gestalt reflektierte Weisgerber seine gesellschaftliche Außenseiterrolle.
¹ Gino de Finetti, Erinnerungen an einen Freund, in: Franz Josef Kohl-Weigand (Hg.), Albert Weisgerber. Worte seiner Freunde, St. Ingbert 1955, S. 16-29.
² Theodor Heuss: Erinnerungen an Albert Weisgerber. in: Albert Weisgerber, Ausst.-Kat. Kurpfälzisches Museum der Stadt Heidelberg, Heidelberg 1962, S.9-10.
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